Was Musik andächtig macht.

Autor: Arend Hoyer
Titel: Was Musik andächtig macht. Drei Leipziger Kirchenkantaten Johann Sebastian Bachs, liturgiewissenschaftlich unter die Lupe genommen
Verlag: Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018
Seiten: 487

Wer kennt sie schon nicht, die Bach-Kantaten, die sich in unserer Zeit in Konzerten einer ungebrochenen Beliebtheit erfreuen und liturgisch eingebettet auch in Gottesdiensten unserer Zeit – wieder vermehrt (?) – aufgeführt werden. In seiner Dissertation, welche er 2015 an der Universität Bern verteidigte und nun unter diesem Titel veröffentlicht, stellt sich Arend Hoyer über den Gefallen am Musikerlebnis die ambitionierte Frage nach der gottesdienstlichen Konzeption dieser Meisterwerke barocker Kirchenmusik: Was macht Musik andächtig?

Wie der Autor in seiner Fragestellung feststellt, fehlen Definitionen für den liturgietheoretischen Stellenwert der Musik und deren Eigenschaften und Funktionen im Gottesdienst. Seine Vermutung, dass Bachs Musik selbst Auskunft über ihr Verhältnis zum Gottesdienst erteilt, wird sich im Laufe seiner Untersuchung bestätigen.

Bevor es zur eigentlichen Analyse der Kantaten geht, wird das Umfeld ihrer Entstehung vorgestellt. Nicht unwesentlich für die gesamte Untersuchung ist die eröffnende Präsentation des geistesgeschichtlichen Kontexts, der einen Blick auf die Verbindung von lutherischer Orthodoxie mit dem mystischen Gedankengut, dem Pietismus und der Aufklärung des frühen 18. Jahrhunderts wirft und auf die Problematik hinweist, Texte heutzutage mit Abstraktion der Aufklärung zu analysieren. Es folgen ein Überblick über die Erforschung der Bach-Kantaten und Informationen zum Leipziger Gottesdienst zur Zeit Bachs, welche sich mangels Quellen leider auf ein kurzes Kapitel zu Liturgie und Predigt (sowie deren Rezeption) beschränken muss.

«Beÿ einer andächtig Musig ist allezeit Gott mit seiner Gnaden=Gegenwart.»: Im fünften Kapitel («Theorien zu Text und Musik der Kirchenkantaten Bachs») kommt der Autor mit der text- und literarkritischen Auslegung der Marginalie, die Bach in seiner Deutschen Bibel zum Vers 13 des 5. Kapitel des 2. Chronikbuchs verfasst hat, zur Sache (2 Chr 5,13: «Und es war / als wäre es einer / der drommetet / und singe / als höret man eine Stimme zu loben und zu danken dem Herrn. Und da die Stimme sich erhub von den Dromme=ten / Cymbaln und anderen Seitenspie=len / und von dem (würklichen) loben des Herrn / daß er gütig ist […]»). Diese gilt als eine der wenigen überlieferten Äusserungen Bachs zur Kirchenmusik. Er stellt die Übereinstimmung von Text (2 Chr 5,13) und Ko-Text (Marginalie) sowie Bachs liturgiepraktisches und musikalisches Interesse an den Chronikbüchern fest. Bach will seine Musik «in Übereinstimmung mit dem sich im Gottesdienst entfaltenden Willen Gottes bringen» und verankert seine Arbeit als Musiker biblisch-theologisch. Die Andacht als literarische Gestalt (etwa auch als Betrachtung oder Meditation bezeichnet) wird – im Gegensatz zur Predigt – in den Bereich der individuellen Frömmigkeitsausübung gestellt, wodurch der «Vollzug einer Kantatenaufführung fundamental in der Privatsphäre der einzelnen Gottesdienstbesuchenden» verankert wird. Anhand seiner theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Untersuchung stellt Hoyer die enge Beziehung der «Andächtig Musig» zur Glaubenspraxis der Bevölkerung her, die auf die «Vereinigung der Seele mit Gott hin» ausgelegt ist. Bachs Musikerensemble wird als «gemeindevertretendes Kultpersonal» benannt und «andächtig Musig» als heilsvermittelnde Scharnierstelle in der gegenseitigen Kommunikation zwischen Gott und seiner Gemeinde definiert. Schliesslich werden die Aufbauprinzipien der von der Antike übernommenen und angereicherten Rhetorik erklärt, die im Folgenden im Sinne einer verlässlichen Systematik der Kantatenanalyse dienen werden. Ferner werden theoretische Zugänge zum Verhältnis von Kantate und Predigt präsentiert, die von Salomon Deylings (zu Bachs Zeiten Pastor an St. Nikolai und Superintendent von Leipzig) bis in die heutige Zeit reichen; stellvertretend seien werden hierzu Alfred Ehrenspergers Wegmetaphorik und David Plüss‘ Forschung zur Inszenierung erwähnt.

Im Hauptteil werden die drei Kantaten zum 14. Sonntag nach Trinitatis (BWV 17, 25, 78) analysiert und als repräsentative Untersuchungsgegenstände vorgestellt, da sie durch die Stellung des besagten Sonntags im Kirchenjahr unter annähernd identischen liturgischen Bedingungen entstanden sind. Die drei Kapitel zu den einzelnen Kantaten sind analog aufgebaut (Präsentation von Quellenlage und Kontext, Bezug zur Perikope und schliesslich Analyse nach rhetorischen Gesichtspunkten). Diese sehr ausführlichen und verblüffend tiefen Analysen sind höchst spannend, verlangen aber dem Leser einiges ab. In jedem Falle sind die Perikopentexte und die Noten der Kantaten beizuziehen, damit die Betrachtung fassbar bleibt und nicht ins Abstrakte rutscht. Die konsequente Anwendung seines Analyseschemas mit der klassischen Rhetorik als Vergleichsgrösse trägt zur Systematik der Analyse bei und garantiert die Vergleichbarkeit der erzielten Erkenntnisse, verhindert aber jegliche Abwechslung beim Lesen.

Anstelle einer hier nicht möglichen Darstellung der Analysen soll es um einige Punkte in deren Auswertung gehen. Zwischen den drei «Schwesterkantaten» wird «dasselbe nach rhetorisch-homiletischen Kriterien gestaltete Prinzip von aufeinander aufbauenden, ineinander überfliessenden und aufeinander verweisenden dogmatischen Bezügen» festgestellt. Aus kirchenmusikalisch-praktischer Sicht erweist sich ein Hinweis als besonders erhellend: Bach wählt als Schlusschoräle gerade nicht diejenigen Kirchenlieder, die für diesen Sonntag für den Gemeindegesang vorgesehen sind, da die Wiederholung desselben Choral nicht sinnvoll wäre. In Anbetracht des Zwecks der «rekapitulativen Vergewisserung» der jeweils letzten Kantatensätze sollte man sich im Rahmen einer liturgischen Aufführung zudem fragen, ob die abschliessenden Choräle nicht eher ohne Gemeindebeteiligung gesungen werden sollten, zumal sich der Choral im Sinne der Wegmetaphorik als «liturgierelevante Brücke» von der Gesamt- in die Teilinszenierung und wieder zurück erweist. Bachs Kantaten fächern biblische Inhalte in Einzelaussagen und -szenen auf, die das Publikum durch ein glaubhaftes Bild («gekonnte Illusion») in die Lage des Augenzeugen versetzen und die Distanz zwischen Gott und seiner Gemeinde für den Augenblick einer Kantatenaufführung aufheben mögen. Bemerkenswert ist der Vergleich von Deylings und Bachs Ansätzen, durch das Inszenieren des Erbauungsrelevanten beim Lesenden bzw. Hörenden Andacht erwachsen zu lassen: Während Deyling den Leser als Hirt mit Du anspricht, ist Bachs Kantate durch den Text mit idealtypischem Ich auf der Ebene der Gemeinde positioniert.

Die Auswertung zeigt, dass Gottesdienst und Musik «eine Ahnung göttlicher Präsenz vermitteln oder diese augenblicklich […] aufscheinen lassen» können. Doch welche Schlüsse müssen daraus für den heutigen Gottesdienst gezogen werden und welchen Herausforderungen sehen wir uns heute gestellt? Klare Worte für die heutigen Gottesdienstakteure findet Hoyer unter Beizug von dem durch Ehrensperger geprägten Begriff der Sorgfalt, sprich: Haltung, Identität, Glaubwürdigkeit. Für und im Dienste der Liturgie und Andacht muss liturgisches Handeln als zielgerichtetes Handeln verstanden werden, müssen sich Gottesdienstakteure gegen ihren persönlichen Geltungsdrang dem Gesamtereignis Gottesdienst unterordnen – nur so kann aus konzentrierter innerer Anteilnahme ein «Erleben mit gesammeltem Bewusstsein» wachsen. Im Blick auf eine sich selbst genügende Liturgiepflege durch Pfarrpersonen wird eine liturgisch geteilte, das heisst interdisziplinär abgestützte Gottesdienstverantwortung angeregt: Hiermit sind nicht nur Pfarrpersonen und Kirchenmusiker gemeint, sondern sämtliche Aktoren und Faktoren – Andacht reicht von der Werbung zur Beleuchtung. Damit Musik ihre liturgierelevante Qualität erhält, muss sie für den jeweiligen Gottesdienst erklingend wahrgenommen werden – situativ für diesen Gottesdienst, als «beste Inszenierungsgestalt eines Stückes». Nebst der «Hörleistung» der Gemeinde, die auch ihren Beitrag am Gottesdienst leistet, ist aber auch das Potenzial einer äusseren Beteiligung der Gemeinde auszuloten, die in jeglicher Hinsicht (musikalisch, theologisch, liturgisch) keinesfalls unterfordert werden darf! So ist ein Einbezug und eine inszenatorische Mitverantwortung der Gemeinde in den Prozess der Gottesbegegnung möglich. Diese – für manchen Leser dieser Rezension vielleicht schon vorhandenen – Grundsätze der Sorgfalt in der Zusammenarbeit und Arbeit an der Gemeinde ermöglichen schliesslich die individuelle wie auch kollektive Auseinandersetzung mit Gottes Gegenwart, «um daraus Orientierung für das eigene Leben zu gewinnen». Kurzgefasst: Interdisziplinäre Sorgfalt dienst als Impuls (und Bedingung) für eine andachtsorientierte Zusammenarbeit.

Mit dieser umfangreichen Untersuchung schafft es Hoyer, die Bach-Kantaten in ihrem – zugegebenermassen sehr komplexen – Umfeld zu situieren. Die Auseinandersetzung mit der Materie verlangt dem Leser einiges ab; nicht selten verstrickt man sich in eine solch inhaltliche Breite, die zum Verständnis eine wiederholte Lektüre fordert. Dies mag einerseits an den (berechtigt) vielzähligen Fussnoten liegen, könnte andererseits aber auch an der sehr präzisen, zuweilen aber auch an der etwas verschachtelten Sprache liegen. Da die beigezogenen Quellen und Methoden nicht zeitgleich präsentiert werden können, sollte man das Buch (oder zumindest den Hauptteil) nach erster Lektüre ein zweites Mal lesen, um das gewonnene Wissen von Beginn an präsent zu haben… Einen gewissen Schwachpunkt legt der Autor bereits in seiner Einleitung nahe: Als Nicht-Musiker ist er zur Interpretation der Notentexts auf Sekundärliteratur angewiesen, welche sich quantitativ in Grenzen hält und qualitativ mit uneinheitlichen Methoden arbeitet. Dadurch geht es in der Analyse im Wesentlichen um die Libretto-Texte, die mangels Urheberangaben oftmals als Bachs Leistung beschrieben und kommentiert werden. Einige Kommentare zur Besetzung und Ergänzungen zur (musikalischen) Rhetorik bieten willkommene Hinweise aus dem musikalischen Blickwinkel.

Diesen kleinen Schwächen zum Trotz ist dieses umfassende Werk jedem zu empfehlen, der sich auf diese Reise nach der Suche der kirchenmusikalischen Essenz der Bachschen Kantaten begeben will. Ruhe, Geduld, viel Zeit und – last but not least – berührenden Aufnahmen der behandelten Werke sind empfehlenswerte Voraussetzungen dazu.

Elie Jolliet